Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass die großen Glaubensgemeinschaften der Sexualität eher kritisch gegenüberstehen. Zwar ist es für jede Kultur essenziell, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen. Wenn es aber um Pornografie, Verhütungsmittel, polygame Beziehungen oder Homosexualität geht, winken viele Religionsvertreter zornig ab. Doch auch religiöse Lustfeindlichkeit ist nicht in Stein gemeißelt.
Sex und Religion sind dicht miteinander verwoben
Sex und Religion wirken zunächst wie Gegensätze, doch in Wahrheit sind sie eng miteinander verflochten und beeinflussen sich gegenseitig seit Menschengedenken.
Religionen versuchten stets, die menschliche Sexualität zu zügeln und in geregelte Bahnen zu lenken. Mal durch strenge Verbote vorehelichen Verkehrs, mal durch die Verherrlichung der Keuschheit oder die Einschränkung von Sex auf Ehe und Fortpflanzung. Doch gleichzeitig finden sich in den heiligen Schriften und der religiösen Kunst auch überraschend freizügige, sinnliche Schilderungen von Erotik und Leidenschaft.
Das Spektrum erstreckt sich von der erotischen Poesie des Hohelieds Salomos in der Bibel über freizügige Tempelskulpturen im Hinduismus bis hin zu tantrischen Lehren, die spirituelle Entfaltung durch sexuelle Ekstase anstreben. Heidnische Fruchtbarkeitskulte und sakrale Prostitution zeigen ebenfalls, dass Spiritualität und Erotik nicht immer im Widerspruch stehen müssen.
Im Grunde sind sowohl Sexualität als auch Religion zutiefst menschliche Phänomene. Beide entspringen der Sehnsucht nach Transzendenz, Hingabe und Verschmelzung mit etwas Größerem. Beide können ekstatische Erfahrungen und tiefe emotionale Befriedigung schenken. Und beide waren und sind Inspirationsquellen für Kreativität und Kunst.
Gewiss führt die Verquickung von Sex und Religion auch immer wieder zu Konflikten, Scheinheiligkeit und Unterdrückung. Doch wer sich unvoreingenommen mit diesem spannungsreichen Verhältnis befasst, kann viel über die vielschichtige Natur des Menschen erfahren - und womöglich sogar neue, bereichernde Wege entdecken, Spiritualität und Sinnlichkeit zu verbinden.
Wie steht das Christentum zur körperlichen Lust?
Über weite Strecken der Kirchengeschichte dominierte eine lustfeindliche, körperabwertende Haltung. Gnostische und manichäische Einflüsse, die das Materielle und Leibliche als sündig betrachteten, färbten auch auf christliche Denker wie Augustinus ab. Sex fand oft nur in der Ehe und zur Fortpflanzung Akzeptanz. Außerehelichen Verkehr, Verhütung und Homosexualität lehnten die Kirchen ab. In manchen kirchlichen Kreisen galten Askese und sexuelle Abstinenz sogar als Ideal.
Die Bibel selbst erweist sich bei genauerer Betrachtung jedoch als weniger lustfeindlich. Tatsächlich enthält sie erotische Passagen wie das Hohelied Salomons und betrachtet den Körper nicht als Gegensatz zur Seele. Auch Jesus lebte (laut Neuem Testament) zwar enthaltsam, lehnte asketische Übertreibungen aber ab. Die Schöpfungsgeschichte zeichnet Mann und Frau als füreinander geschaffen.
Heutzutage existieren im Christentum unterschiedliche Sichtweisen nebeneinander. Konservative Strömungen, besonders im Katholizismus, halten an traditionellen Sexualnormen fest. Liberalere Ansätze hingegen betonen die Bedeutung von Liebe und Konsens und akzeptieren auch vorehelichen Sex, Verhütung und
Homosexualität. Papst Franziskus selbst wies den Vorwurf der Lustfeindlichkeit zurück und bezeichnete Lust sogar als "göttlich".
Das ändert freilich nichts an der konservativen Sichtweise des Vatikans. Körperliche Liebe soll nur unter verheirateten, heterosexuellen Paaren stattfinden und
Verhütungsmittel sind nach wie vor ein Tabu. Auch Abtreibungen bei ungewollter Schwangerschaft sind aus kirchlicher Sicht eine schwere Sünde. In Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern klafft jedoch ein großer Spalt zwischen der katholischen Sexuallehre und dem gelebten Alltag der Katholiken. Dies ist einer von vielen Gründen, warum immer mehr Menschen ihrer Kirche den Rücken kehren.
Insgesamt lässt sich feststellen: Historisch stand das Christentum der Sexualität oft skeptisch gegenüber, ist aber nicht per se lustfeindlich. Heute existiert eine große Bandbreite an Positionen. Eine pauschale Verurteilung als "sexualfeindliche Religion" greift daher zu kurz. Entscheidend bleibt, wie Liebe und Verantwortung gelebt werden.
Ist der Islam lustfeindlich?
Entgegen landläufiger Meinungen ist der Islam nicht grundsätzlich lustfeindlich. Der Koran selbst thematisiert Sex offen und sieht darin nicht nur ein Mittel zur Fortpflanzung, sondern auch ein Geschenk Gottes zum Genuss des Menschen. Den Orgasmus bezeichnet er sogar als "Vorgeschmack auf das Paradies". Auch die islamische Tradition kennt durchaus lustbejahende Strömungen und erotische Literatur.
In der Praxis haben sich jedoch in vielen islamisch geprägten Gesellschaften restriktive Sexualnormen etabliert. Vorehelichen und außerehelichen Sex sowie Homosexualität lehnen die meisten ab. Über Sexualität spricht man oft nicht offen, in vielen Familien bleibt sie tabuisiert. Konservative Strömungen wie der Islamismus verstärkten diese Tendenzen noch, indem sie sich vom "sexuellen Chaos" des Westens abgrenzten.
Die Gründe für lustfeindliche Tendenzen liegen weniger in der Religion selbst als in patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, die vor allem die weibliche Sexualität kontrollieren wollen. Auch der Einfluss lustfeindlicher Strömungen aus dem Christentum während der Kolonialzeit spielte eine Rolle. Die Verengung auf normative Fragen wie "wann darf man was mit wem" stellt eine neuere Entwicklung dar.
Heute gibt es in der islamischen Welt Bestrebungen, die lustfreundlichen Traditionen des Islam wiederzuentdecken. Immer mehr gläubige Muslime, darunter auch verschleierte Frauen, sprechen offen über Körper und Sexualität. Islamische Sexualtherapeuten versuchen, eine positive Sicht von Lust und Partnerschaftlichkeit zu vermitteln.
Fazit: Der Islam ist von seinen Quellen her nicht lustfeindlich, auch wenn sich historisch oft restriktive Sexualnormen durchgesetzt haben. Heute ist die Bandbreite der gelebten Einstellungen groß und im Wandel begriffen. Eine pauschale Charakterisierung des Islam als "lustfeindliche Religion" greift daher zu kurz.
Wie steht das Judentum zu Erotik und Sexualität?
Sexualität wird im Judentum grundsätzlich als etwas Gutes und Natürliches angesehen, das zum menschlichen Leben dazugehört. Der Talmud äußert sich offen und meist positiv über sexuelle Lust. Sex gilt als "Vorgeschmack auf die kommende Welt". Im Gegensatz zum Christentum gibt es im Judentum kaum eine lustfeindliche Sexualmoral.
Innerhalb der Ehe hat Sexualität einen hohen Stellenwert. Sie dient nicht nur der Fortpflanzung, sondern auch der Befriedigung und Erfüllung beider Partner. Der Ehemann ist sogar verpflichtet, seine Frau sexuell zu befriedigen. Mischna und Talmud betrachten sexuelle Erfüllung als wichtigen Bestandteil der Ehe.
Allerdings existieren auch im Judentum klare Regeln und Gebote bezüglich Partnerschaft und Sexualität, insbesondere unter orthodoxen Juden. Vor- und außerehelicher Sex beispielsweise sind demnach verboten. Liberalere Strömungen zeigen sich offener gegenüber Singles, unverheirateten Paaren und interreligiösen Beziehungen.
In einigen Strömungen wie der Kabbala wird der Sexualität auch eine spirituelle und mystische Bedeutung zugeschrieben, durch die der Mensch an der Schöpfung teilhat. Der Körper gilt dabei als ebenso heilig wie die Seele.
Einige Religionen können sogar als generell lustfreundlich bezeichnet werden
In den ethnischen Religionen Afrikas ist die Verbundenheit mit der Natur tief verwurzelt. Sexualität wird als natürlicher und selbstverständlicher Teil des Lebens betrachtet. Der Umgang mit Erotik und Sex ist dementsprechend offen und liberal.
Der Hinduismus präsentiert ein breites Spektrum an Ansichten über Sexualität. Einerseits gibt es eine reiche Tradition erotischer Kunst und Literatur, wie das berühmte Kamasutra, das Sexualität als Ausdruck der göttlichen Schöpfung feiert. Andererseits existieren auch asketische Strömungen, die Enthaltsamkeit als spirituellen Weg predigen.
Moderne religiöse und spirituelle Bewegungen, die im 20. und 21. Jahrhundert entstanden sind, zeichnen sich oft durch eine
offenere Haltung gegenüber der Sexualität aus. Sie lehnen strenge Moralvorschriften ab und betrachten Sex als Weg zur Selbstverwirklichung und spirituellen Erfahrung. Beispiele hierfür sind
- Dudeismus: Inspiriert von der Philosophie des Taoismus und Epikur, propagiert der Dudeismus eine entspannte und lustvolle Lebenshaltung, ähnlich wie in der Filmfigur "The Dude" aus "The Big Lebowski".
- Kopimismus: Diese in Schweden gegründete Bewegung betrachtet das Kopieren und Teilen von Informationen als heilige Tugend und hat so eine moderne Form der Spiritualität entwickelt, die mit dem digitalen Zeitalter einhergeht.
- Die Kirche des schönen Todes: Diese provokative Religionsgemeinschaft wirbt für einen offenen Umgang mit Themen wie Suizid, Abtreibung und sexueller Freiheit.
- Raelismus: Die Raelisten glauben, dass fortgeschrittene außerirdische Wesen, die "Elohim", für die Schöpfung des Lebens auf der Erde verantwortlich sind. Sie verbinden wissenschaftliche Vorstellungen mit spirituellen Elementen.
- Modernes Heidentum: Dazu gehören Bewegungen wie Asatru oder Wicca, die alte polytheistische Glaubenssysteme neu interpretieren und oft einen starken Fokus auf Naturspiritualität und persönliche Freiheit legen, einschließlich sexueller Freiheit.