Die Gesellschaft ist ungerecht: Wenn sich ein Mann erkennbar sexuell austobt, findet das häufig die Anerkennung des Umfeldes. Anders die Frau, die schnell ihren Ruf als Schlampe weghat. Woher kommt diese Diskrepanz?
Body Count: Die Anzahl der Sexpartner*innen als Gradmesser
Soziale Medien wie TikTok bieten eine perfekte Plattform, um sich zu profilieren. Viele vordergründig junge Menschen machen ihren eigenen Wert oftmals davon abhängig, wie andere die geposteten Inhalte bewerten. Gerade männliche Teenager und junge Männer verwechseln es allerdings häufig mit einer Art Talent, besonders viele Sexpartner*innen auf die eigene ‚To-Fuck-Liste‘ setzen zu können. Understatement ist dabei also nicht gefragt: Wer sich im real Life oder in der Social Media immer wieder mit anderen Dates sehen lässt, steigert den eigenen ‚Marktwert‘ – zumindest im persönlichen Umfeld. Und der Unterschied zwischen den Geschlechtern unter den Bewunderern ist erstaunlich klein: Wer offenbar jede*n kriegen kann, muss ein verdammt cooler Typ sein, jedenfalls nach dieser Logik.
Auf die Frauen lässt sich das allerdings nicht 1:1 übertragen. Im Gegenteil, hier ist eher das ‚Slut Shaming‘ vorherrschend. Gemeint ist damit der Gram über die eigene Schwäche, wenn man (frau!) sich ebenfalls wechselnde Kurzzeit-Partner*innen gönnt. Denn wenn das publik wird, wirkt sich das fast automatisch negativ auf den eigenen Ruf aus. Die Frau gilt als ‚gebraucht‘ und damit als weniger wert. Falls sie sogar häufiger mit anderen Partnern zu sehen ist, ist der Ruf oftmals sogar komplett ruiniert. Titel wie ‚Dorf- oder Kiezmatratze‘ machen dann die Runde – und sie sind alles andere als ehrenvolle Auszeichnungen. Manchmal kann sich der Spieß sogar wieder in die männliche Richtung umdrehen: Wer bereits etwas mit der ‚Schlampe‘ hatte, braucht sich darauf nichts einzubilden.
Kurzzeitiger Hype oder grassierendes Problem?
Natürlich gab es ähnliche Stereotype bereits in der Vergangenheit. In der analogen Zeit wurden Details aber nicht annähernd so stark publik, wie es die heutige Technik möglich macht. Das Rollenbild bleibt trotz des technischen Fortschrittes allerdings rückwärtsgewandt, denn ganz offensichtlich gesteht man Frauen im Hinblick auf die sexuelle Entfaltung nicht die gleichen Freiheiten zu wie ihrem männlichen Umfeld. Das hat oftmals nicht nur kurzzeitige Folgen, sondern kann sich auf weiblicher Seite zu einer dauerhaften Verschlossenheit gegenüber allen Sex- und Beziehungsformen abseits der Monogamie entwickeln. Und zwar ausdrücklich auch dann, wenn man dann keine umfassende Erfüllung finden kann.
Gleichzeitig fühlen sich viele junge Männer unter Druck gesetzt, möglichst viele Sexkontakte zu sammeln – womit wir wieder beim Begriff des ‚Body Counts‘ angekommen wären. Dass das nicht gutgehen kann, liegt auf der Hand. Denn Erotik und Sex sind bekanntlich viel mehr als die benannten Einträge auf der Checkliste.
Männer neigen auch hier zur Übertreibung
Angesichts der beschriebenen Rollenklischees sind viele Frauen bemüht, ihre eigenen sexuellen Abenteuer so tief wie möglich unter den Teppich zu kehren. Auf männlicher Seite ist das vollkommen anders: Hier brüstet man sich sogar mit lustvollen Stunden, die gar nicht stattgefunden haben. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls eine
Studie der Universität Glasgow. Demnach hatten die befragten Männer in Deutschland, Großbritannien und den USA rund doppelt so viele Sexpartner*innen wie die Frauen. Diesen Unterschied bringen die Forschenden vor allem mit einem Satz auf den Punkt: „Männer schätzen, Frauen zählen.“
Demnach ist es typisch weiblich, sich die Anzahl der Sexpartner*innen exakt zu merken, während sie von Männern eher überschlagen wird. Zwar geht man für die männliche Seite tatsächlich von höheren Zahlen aus. Trotzdem sind die Forschenden davon überzeugt, dass Männer tendenziell lieber nach oben korrigieren, als die mögliche Zahl kleinzurechnen. Auch hier ist der Body Count die naheliegende Erklärung: Je größer die Anzahl der Sexkontakte, desto höher der eigene Marktwert.
Gleichzeitig neigen Frauen zur Wahrheit oder zur leichten Untertreibung, wenngleich sich kaum eine Frau auf null ‚herunterkorrigieren‘ würde. Denn das würde man(n) einer attraktiven Frau ohnehin nicht abnehmen, während sie bei einer weniger ansprechenden Optik den Stempel eines unattraktiven Mauerblümchens aufgedrückt bekäme.
Natürlich ist das vermittelte Rollenbild so nicht haltbar
Während Frauen brav und anständig sein sollen, stellen Männer ihre ‚Beute‘ stolz zur Schau. So jedenfalls kann man den weiter anhaltenden, Besorgnis erregenden Trend zusammenfassen. Fakt ist aber: Es gibt keine objektive Antwort auf die Frage nach der „richtigen“ Anzahl der Sexpartner*innen. Zudem hat die Frage nichts mit dem Geschlecht zu tun und lässt sich lediglich mit unterschiedlichen Vorlieben, Wünschen und Lebensentwürfen beantworten.
So gibt in allen Geschlechtern Menschen, die sich bewusst gegen ein monogames und für ein promiskuitives Leben entscheiden. Der häufigste Lebensentwurf hierzulande ist die ‚serielle Monogamie‘, in der man im Laufe des Lebens hintereinander mehrere monogame Beziehungen führt. Selten findet man sogar noch jene gelebte Utopie, die auch aus der Sicht der großen Religionen als erstrebenswert gilt: Man heiratet in jungen Jahren und lebt dann bis an das Lebensende in einer monogamen, einander verbundenen Sex- und Liebesbeziehung.
Als erwiesen gilt, dass die Anzahl sexuell komplett unerfahrener Erwachsener heute deutlich geringer ist als in der Vergangenheit, was sicher auch auf die Social Media zurückzuführen ist. Doch selbstverständlich hat jede und jeder das Recht, sich sexuell nach eigenem Gutdünken auszuleben oder zurückzuhalten. Ein imaginärer oder tatsächlicher Wert lässt sich daraus nicht ableiten.