In Zeiten der globalen Vernetzung und des überall verfügbaren Wissens scheint die Gesellschaft auch sexuell aufgeklärter zu sein als jemals zuvor. Aber ist das wirklich so? Und wie informiert oder verklemmt waren die Menschen in früheren Zeiten? Ein guter Grund für eine Zeitreise von den 1950ern bis in die Gegenwart.
1950er
In der Nachkriegszeit der 1950er-Jahre unterschieden sich die Aufklärung und der Wissensstand in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik teilweise deutlich.
In der DDR verankerte man die Gleichberechtigung von Frauen und Männern bereits in der Verfassung von 1949. Frauen und Männer besaßen also laut Gesetz die gleichen Rechte und Pflichten. Die DDR versuchte, durch verschiedene Maßnahmen traditionelle Rollenbilder aufzubrechen. So ermutigte man etwa Frauen aktiv dazu, einem Beruf nachzugehen und sich weiterzubilden. Kindertagesstätten und Gemeinschaftseinrichtungen sollten dabei helfen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen zu erleichtern.
Allerdings blieb die DDR-Gesellschaft weiterhin von patriarchalischen Strukturen geprägt. Frauen hatten oft mit Vorurteilen und Benachteiligungen am Arbeitsplatz zu kämpfen. Man hielt sie häufig dazu an, „weibliche“ Berufe wie Lehrerin, Sekretärin oder Krankenschwester zu ergreifen und bot ihnen nur begrenzte Möglichkeiten, sich in anderen Bereichen zu qualifizieren. Folglich dominierten Männer nach wie vor viele Bereiche des öffentlichen Lebens, vorrangig auch dadurch, dass sie Führungspositionen besetzen.
In der Bundesrepublik Deutschland der 1950er-Jahre lag der Fokus nach wie vor auf traditionellen Geschlechterrollen. Frauen stand ein Leben als Hausfrau und Mutter offen; die Ausübung eines Berufes hingegen blieb eine seltene Ausnahme. Dementsprechend schwierig war es für Frauen, sich zu bilden und qualifizierten Tätigkeiten nachzugehen.
Aufklärung über sexuelle Gesundheit und Verhütung war in beiden deutschen Staaten ein sensibles Thema. In der DDR war Sexualaufklärung in der Schule Unterrichtsthema, allerdings oft mit einem starken Fokus auf Reproduktion und Familienplanung. In der Bundesrepublik war die Aufklärung weniger strukturiert und erfolgte teilweise durch kirchliche Organisationen oder Jugendverbände. Gerade in der BRD war die Gesellschaft aber insgesamt recht prüde. Über Erotik und Sex sprach man nicht offen, weshalb viele Fragen junger Menschen unbeantwortet blieben. Verhütungsmittel waren in beiden Staaten bereits verfügbar. Man reichte sie aber lediglich unter dem Siegel der Verschwiegenheit weiter und verwendete sie dementsprechend diskret.
1960er
In der DDR trieb man den Gleichheitsgedanken weiter voran. Dieser fügte sich gut in die Bemühungen ein, eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen.
In der Bundesrepublik Deutschland der 1960er-Jahre kam es hingegen zu sozialen und kulturellen Umbrüchen. Mit Slogans wie „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ setzte sich die sogenannte „68er-Bewegung“ für gesellschaftliche Veränderungen ein und stellte dabei auch die traditionellen Geschlechterrollen infrage. Außerdem war eine zunehmende Liberalisierung in Bezug auf Sexualität und Lebensstile zu beobachten. Die Frauenbewegung gewann Einfluss und forderte Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für Frauen ein.
Ebenso geriet die Aufklärung über sexuelle Gesundheit und Verhütungsmethoden in beiden deutschen Staaten zunehmend in den Fokus. In der DDR wurde das Thema in Schulunterricht und öffentlichen Kampagnen behandelt. In der Bundesrepublik jedoch tat man sich mit dieser Thematik weiterhin etwas schwerer. Immerhin entstanden erste Beratungsstellen, die im Hinblick auf Aufklärung echte Pionierarbeit leisteten. Allerdings betrachteten die Kirche und andere konservative Kreise diese Beratungen sehr kritisch.
1970er
In der DDR galt weiterhin das Credo, dass Gleichberechtigung von Mann und Frau zu fördern sei. Allerdings blieben traditionelle Rollenbilder und patriarchale Strukturen weiterhin präsent. Frauen hatten oft mit Vorurteilen und Benachteiligungen im Berufsleben zu kämpfen. Die Regierung versuchte, durch verschiedene Maßnahmen – etwa durch den Ausbau von Kindertagesstätten und Gemeinschaftseinrichtungen – die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen zu erleichtern.
In der Bundesrepublik kam es in den 1970er-Jahren zu einer zunehmenden Liberalisierung der Gesellschaft, insbesondere in Bezug auf Sexualität und Lebensstile. Die sogenannte „sexuelle Revolution“ führte zu einer offeneren Haltung gegenüber verschiedenen sexuellen Orientierungen. Die Frauenbewegung gewann weiter an Einfluss und setzte sich für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ein.
On top fand die sexuelle Aufklärung nun auch in der Bundesrepublik ihren Platz im Schulunterricht. Allerdings war die Sexualkunde oftmals noch so technisch und lebensfremd, dass sich viele junge Leute an anderer Stelle über Erotik und Sex informierten. Jugendverbände, verschiedene Beratungsstellen und die Medien sprangen hierbei oftmals in die Bresche. Einen wachsenden Einfluss auf junge Menschen hatte mittlerweile auch die Jugendzeitschrift ‚Bravo‘. Dort beantwortete ein Redaktionsteam unter dem Pseudonym ‚Dr. Sommer‘ auch heikle Fragen zur Sexualität. Die Antworten interessierten natürlich auch junge Leute jenseits des eisernen Vorhangs. Bravo-Hefte gehörten neben Kaffee und Schokolade zu den begehrtesten Westgütern. Sie gelangten u. a. in Paketen oder bei Verwandtenbesuchen in den Osten.
1980er
In den 1980er-Jahren setzten sich in der Bundesrepublik Deutschland die Tendenzen der 1970er-Jahre fort, wobei die Gesellschaft weiterhin liberaler und offener wurde. Die sexuelle Revolution und die Frauenbewegung hatten zu einer breiteren Akzeptanz verschiedener Lebensstile und einer stärkeren Betonung von Gleichberechtigung geführt. Aufklärungskampagnen zu sexueller Gesundheit und Verhütung waren weitverbreitet, und die Medien spielten eine zunehmend wichtige Rolle bei der Verbreitung von Informationen über diese Themen. Die Bravo (und einige weitere Jugendzeitschriften) waren am Kiosk mittlerweile omnipräsent. Auch das zunehmend internationale Fernsehen trug seinen Teil zu mehr sexueller Offenheit bei. Sendeformate wie die amerikanische Serie ‚Miami Vice‘ gingen offener mit der Thematik um, als man es hierzulande zuvor gewohnt war. In ähnlicher Weise verband das ebenfalls amerikanische Musikfernsehen ‚MTV‘ Sexualität und Lifestyle und sorgte auch in Westdeutschland für ein neues Selbstverständnis.
In der DDR wurde die Aufklärung staatlich gelenkt und fokussierte sich weiterhin stark auf die Gleichberechtigung der Geschlechter. Bildungseinrichtungen und staatliche Medien wurden genutzt, um die Bevölkerung über gesellschaftliche Pflichten und Rechte aufzuklären. Allerdings verspürte man auch in der DDR mittlerweile einen neuen Wind, der auch in auf die Jugend zugeschnittenen Medien seine Spuren hinterließ. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der Radiosender DT64, der Ende 1987 auf Sendung ging. Parallel bekam der eiserne Vorhang immer mehr Löcher. Als Bruce Springsteen am 19. Juli 1988 vor 160.000 in Ost-Berlin auftrat, träumten zahlreiche begeisterte Fans auch von mehr sexueller Freiheit. Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands sollte es nur noch etwas mehr als zwei Jahre dauern.
1990er
In den 1990er-Jahren erlebten die Menschen in den alten und neuen Bundesländern Deutschlands eine Zeit des Umbruchs und der Neuausrichtung, die auch die Aufklärung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen beeinflusste.
Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 standen die neuen Bundesländer vor der Herausforderung, sich an das politische und gesellschaftliche System der alten Bundesländer anzupassen. Dieser Prozess umfasste auch die Angleichung von Bildungs- und Aufklärungsstandards. In den neuen Bundesländern wurde begann man schnell, die Bildungsprogramme zu reformieren, um sie an die des Westens anzupassen. Das zog eine breitere und modernere Aufklärung in Schulen und durch öffentliche Kampagnen nach sich. Wirtschaft und Medien hatten hieran aber ebenfalls einen erheblichen Anteil. Erotik-Shops wie ‚Beate Uhse‘ und ‚Orion‘ erkannten in den neuen Bundesländern ein gewaltiges Potenzial. Daher gehörten sie zu den ersten westlichen Unternehmen, die im Osten neue Filialen gründeten.
In den alten Bundesländern setzte sich die Tendenz der 1980er-Jahre fort, wobei Themen wie Umweltschutz, europäische Integration und die Globalisierung der Wirtschaft zunehmend in den Fokus rückten. Die Aufklärung über sexuelle Gesundheit und Gleichberechtigung wurde weiter vertieft, unterstützt durch die Medien und Bildungseinrichtungen, die eine wichtige Rolle in der Verbreitung von Informationen spielten.
Für beide Teile des wiedervereinigten Landes spielte die Aufklärung auch aufgrund der noch immer grassierenden AIDS-Pandemie eine wesentliche Rolle. Kampagnen wie ‚Gib AIDS keine Chance‘ gaben der Information über Safer Sex einen kraftvollen Schub. Mittlerweile waren Kondome auch in Drogeriemärkten oder an Automaten (etwa in öffentlichen WC-Anlagen) zu bekommen.
2000er
In den 2000er-Jahren erlebten die Menschen in Deutschland eine zunehmende Digitalisierung und Vernetzung. Der Zugang zum Internet wurde alltäglicher und breitbandige Internetverbindungen ersetzten zunehmend die langsameren 56K-Modems und ISDN-Anschlüsse. Dies förderte eine schnellere und umfassendere Verbreitung von Informationen und trug zu einer breiteren Aufklärung bei.
Insgesamt prägten eine wachsende kulturelle Vielfalt und eine intensivere Auseinandersetzung mit globalen Themen wie Umweltschutz, sozialer Gerechtigkeit und internationaler Politik die 2000er-Jahre. Gleichzeitig führte die Verfügbarkeit des Internets zu einer Demokratisierung des Wissens, wobei jeder Zugang zu einer nahezu unbegrenzten Menge an Informationen hatte. Dies änderte die Art und Weise, wie Menschen lernen und sich informieren, grundlegend. Allerdings machte dies auch die Schattenseiten deutlich sichtbarer, insbesondere im erotischen Teil des Internets. Jeder konnte nun auf Online-Pornografie zurückgreifen, war aber auch für Spam und Schadsoftware angreifbarer. Da die entsprechenden Server oftmals in fernen Ländern stationiert waren, sahen sich deutsche Behörden und Kommunikationsunternehmen teilweise mit der Etablierung eines wirksamen (Jugend-) Schutzes überfordert.
Fake News waren ebenfalls ein neues, ärgerliches Phänomen. Plötzlich war es einfacher als jemals zuvor, auch in Themenbereichen wie Erotik und Sex Unwahrheiten zu verbreiten. Diese Problematik hat sich leider bis in die heutige Zeit erhalten.
2010er
In den 2010er-Jahren waren die Menschen in Deutschland zunehmend besser über sexuelle Gesundheit, Verhütung und verschiedene sexuelle Orientierungen aufgeklärt. Die Verfügbarkeit des Internets und sozialer Medien spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung von Informationen. Influencer und populäre Serien wie „Sex Education“ trugen dazu bei, sexuelle Bildung in den Mainstream zu heben und Tabus zu brechen. Themen wie Klitoris, Slow Sex und der Orgasmus-Gap, die man vorher kaum öffentlich diskutierte, trafen plötzlich auf mehr Offenheit und Interesse.
Dies zeigte sich auch am Phänomen der ‚Dildo-Partys‘. Ähnlich, wie man es früher etwa von Plastikschüsseln kannte, präsentierte und bestellte man nun auch Sexspielzeug im heimischen Wohnzimmer. Ein weiteres Phänomen, das so zuvor undenkbar schien, war der Erfolg der 50 Shades of Grey-Reihe. Sowohl die Romane als auch die späteren Filme der expliziten BDSM-Story trafen mitten in den Mainstream. Die Bücher konnte man im regulären Buchhandel bekommen und die Filme standen in den Programmen der etablierten Kinos. Und auch innerhalb von Partnerschaften und in Freundeskreisen etablierte sich ein offenerer Umgang mit Sexualität als Gesprächsthema.
Dies ebnete einer moderneren Form der Sexualkunde ebenfalls den Weg. Die sexuelle Aufklärung in Schulen variierte jedoch stark je nach Bundesland. Während einige Schulen umfassende Programme zur sexuellen Bildung anboten, gab es anderswo Kritik, dass in manchen Regionen, insbesondere in Bezug auf LGBTIQ* Themen, keine ausreichende Aufklärung stattfand… Trotz dieser Unterschiede zeigte sich, dass Jugendliche generell besser informiert waren als frühere Generationen, selbst wenn sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen tendenziell später als diese machten.
2020er
Die sexuelle Aufklärung in Schulen umfasst mittlerweile nicht nur biologische Aspekte. Vielmehr beinhaltet sie inzwischen ebenso Themen wie die sexuelle Vielfalt im Hinblick auf Geschlechterrollen und individuelle Vorlieben. Indes: Trotz dieser Fortschritte gibt es weiterhin Diskussionen über die Angemessenheit und den Umfang der Aufklärung, was vorrangig jüngere Altersgruppen betrifft.
Jugendliche und junge Erwachsene haben heute Zugang zu einer Fülle von Informationen über das Internet. Das kann potenziell zu einem besseren Verständnis und einer größeren Akzeptanz verschiedener sexueller Orientierungen und Identitäten führen. Allerdings gibt es weiterhin Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen von Pornografie und deren Zugänglichkeit, die möglicherweise unrealistische Erwartungen und Normen fördern. Dies betrifft auch, aber nicht nur die heutige Jugend.
Es bleibt also eine wichtige Aufgabe für Bildungseinrichtungen, Politik, Anbieter von Pornografie und Sextoys und die Gesellschaft insgesamt, die richtigen, realistischen Wege zu ebnen. Dass Erotik und Sex heute breit und vielfältig besprochen werden, bietet dem Einzelnen alle Möglichkeiten für die Entfaltung. Dies sollte aber stets ohne Druck und aus freien Stücken geschehen. Und genau dafür ein Gefühl zu vermitteln, darin besteht eine der wesentlichen Aufgaben der zeitgemäßen sexuellen Aufklärung.